Derb vs. Derb, warum Wedge nicht gleich Wedge ist?

Begonnen von Rockabillyhelge, 02. November 2014, 22:40:25

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Rockabillyhelge

Seit ich mit dem Messern angefangen habe war (und bin) ich fasziniert von derben Messern, nicht unbedingt der hohen Technik wegen sondern eher der Tatsache wegen das es sich um den Archaetyp Messer handelt, aber rasurtechnisch, naja, es ist eine sehr ambivaltente Beziehung.

Und genau diese Beziehung verwirrt mich regelrecht, mit all den vollhohlen Messern die ich habe und hatte konnte ich mich eigentlich fast immer gut und zufriedenstellend rasieren aber bei den derben Messer ist es wie eine Lotteriespiel, von dreissig Stück funktionieren vier so hervorragend das einem das Herz jauchzt und 27 so übel das man sich kein zweites Mal damit rasieren mag wobei alle gleich geschärft und scharf sind.
Es ist schwer zu beschreiben aber irgendwie scheint es immantente Unterschiede im Rasurverhalten derber Messer zu geben, so denke ich es mir, ob es so ist das weis ich nicht.
Daher möchte ich dir Frage gerne in die Runde stellen und würde gerne wissen wer ähnliche Erfahrungen gemacht hat das trotz gleichen, keilförmigen Grundschliffes und gleichartiger Schärfe es mit dem einen klappt und mit dem anderen so überhaupt nicht  ???
Auch mit Bart immer gut rasiert :)

BlueDun

Nunja ... das mit den Wedges ist auch bei mir so eine Sache.
Man muss ja immer a bissi vorsichtig sein, wenn man sich gegen ausgetretene gebetsmühlenartige Statements stellt. Man hört und liest immer wieder mal diese Aussagen wie "lautlose Killer", "gnadenlose Mäher" usw.
In meine frühen Tagen hat mich das zu der Annahme verführt, dass Wedges (und insbesondere natürlich W&B) das Mass aller Dinge sind. Die Messer für den RICHTIGEN Mann, die Messer die schon beim blossen Zeigen dem Bart so viel Angst einflössen, dass er abfällt.

Als ich dann so meine ersten Wedges bekam, konnte ich das Ganze nicht reproduzieren. "Meine Schuld - bin halt Anfänger" - dachte ich. Mit dem Wachsen der Sammlung kam aber die Erleuchtung doch nicht. Heute habe ich genug Erfahrung, damit ich mir eine fundierte Meinung gebildet habe und dazu stehe. Und die sieht so aus, dass ich einige Wedges habe, die wirklich gut rasieren. ABER, meine Referenzrasuren bekomme ich mit Vollhohlen (meistens Solinger). Punkt! Mit den Wedges - so gründlich sie vielleicht auch sein mögen - ist die Haut meistens mehr in Mitleidenschaft gezogen, als bei den Hohlen.
Macht für mich ja auch irgendwie Sinn. Schliesslich stellen die Hohlschliffe den technologischen Fortschritt dar, mit dem Vollhohlschliff als letzte Entwicklungsstufe. Das hätte sich nie so ergeben, wenn da kein klarer Vorteil gewesen wäre. Ja, Schärfbarkeit gehört da sicher auch dazu. Aber definitiv auch die Güte der Rasur. Ich kann dem Werbeversprechen der "zarten" Schneide durchaus was abgewinnen - ich kann es nämlich bestätigen.

OK, Wedges sind nunmal da. Sie haben auch was für sich. Sie stellen den Archetyp dar, sie sind männlich, cool. Ich bekenne mich ungeniert dazu. Und manche der dicken Schlachtbeile sind einfach endgeil!
Aber für meine bescheidene Wenigkeit ist es klar: Der Olymp der Rasurgüte ist ein vollhohles Messer.

Gruss
BlueDun

lotse

Nun ja Helge, ich kann deine Ratlosigkeit in gewisser Weise nachvollziehen. Meiner Ansicht nach, trifft dieses Problem mehr oder minder auf alle Rasiermesser zu. Ich hatte auch schon vollhohle Messer, die ich trotz Anwendung aller Schärfzeremonien (jap. Natursteine mit geweihtem Wasser bei Vollmond usw.) nicht zu einer comfortablen Endschärfe überreden konnte.
Ich rasiere mich aber sehr gerne und oft mit derben Klingen und habe für mich festgestellt, daß das Zweitagesstoppelfeld das ideale Terrain für derbere Klingen (bis halbhohl) ist. Vollhohle Messer rasieren immer, mit derben Klingen bekomme ich die besten Resultate im Stoppelfeld.
Mit der Zeit gewöhnt sich die Haut an die derben Klingen. das ist dann der Cordovaneffekt.... ;)


Iltis

Ob vollhohl oder derb, mMn. ein gut geschärftes Messer rasiert gut; wenn es nicht gut rasiert dann ist es entweder nicht gut geschärft, oder das Messer ist Schrott.

Zitat von: BlueDun am 03. November 2014, 10:57:12
...Schliesslich stellen die Hohlschliffe den technologischen Fortschritt dar, mit dem Vollhohlschliff als letzte Entwicklungsstufe...

Das sehe ich nicht ganz so - der eigentliche Sinn von der Hohlschliff, in meine Augen, ist das Schärfen zu erleichtern - bei ein "richtigen"  Wedge muss man entweder freihand mit angehobene Schulter schärfen oder sich ein Hilfskonstruktion basteln. Ich selber bekomme nur in die seltensten Fälle ein Rasiermesser freihand rasierscharf. Da ist die Auflagefläche am Schulter sehr hilfreich. Mehr als 1/4Hohl braucht ein Messer dafür nicht zu sein.
Wie geschrieben, m.E. rasieren gut geschärfte Messer gleich gut unabhängig vom Klingengeometrie, also müssen die ultradünnen, z.B. 14er Klingenvollhohlschliffe eine andere Funktion haben, denn im Vergleich mit "normal" Hohlgeschliffene Klingen sind sie schwieriger zu schärfen, durch ihre höhere Flexibilität, die übrigens auch, mMn. nicht zweckdienlich bei der Rasur ist - man muss mehr aufpassen der gleiche Resultat zu erzielen. Da geht es, wie ich es sehe, mehr um das technisch machbares als um irgendwas rasurtechnisch sinnvolles; das vergleiche ich gerne mit leistungsstarke Sportautos die für der Teilnahme an normale Strassenverkehr nicht wirklich optimiert sind aber für die Leute die sowas schätzen verdammt was her machen.

Zurück zum derbe Messer - auch ich habe die Erfahrung gemacht, das ein Messer scharf erscheint (HT, Geräusch beim Ledern), aber nicht zufriedenstellend rasiert. Das liegt, nach meine Erfahrung, meistens an der Schärftechnik. Von Kunststeine habe ich zugegebeneweise keine Ahnung, aber der Auswahl der (natur-)Abschlussstein spielt für mich eine entscheidende Rolle - auf ein GBB habe ich z.B. noch nie ein Messer aus Cast Steel rasurscharf bekommen, und manche Messer "mögen" die eher weichere Thüringer bzw. der walesische "Dragon's Tongue" als eher härtere Schiefersteine (z.B. der "Stein von Koraat" wie ich ihn gerne nenne). Woran liegt das? keine Ahnung, ist aber für mich empirisch so. Eine andere Punkt: derbe Messer haben i.d.R. breitere Facetten als hohlgeschliffene, teilweise extrem breiten - das bedeutet das die Facette mehr Kontakt mit der Stein benötigt, um der gleichen Effekt zu erzielen als bei ein hohlgeschliffenes Messer - in anderen Worten, statt 30 Schübe auf der Abschlussstein kann es gut und gerne ein paar hunderte werden, auch wenn der HT einem sagt, das man schon "durch" ist. Das gleiche gilt fürs Ledern. So habe ich gelernt, derbe Messer die nicht scharf sein wollten, zu überzeugen.

Um es kurz zu fassen, derbe Messer sind was für echte Alphamänner, die was archaisches haben (wollen), megavollhohle Messer sind was für Angebertypen, die anatomische Defizite (s. auch Sportautos) kompensieren müssen. Wer sich für was "normales" hält kauft sich am bestens ein stinknormales Messer, legt ihn im Schrank und lässt sich ein Vollbart wachsen (zumindest bis die jetzige Mode dafür vorbei ist).

Gruß

Iltis
de gustibus, aut bene aut nihil

jollo74

Interessante Diskussion ;D!

Ich teile Iltis Meinung, dass es meistens die Messer mit sehr breiter Facette sind, die nicht so super rasieren :-\... Meine derben Messer mit einer gaaanz schmalen Factte sind allesamt tolle Rasierer. Und ich glaube es ist  auch etwas an Iltis' Theorie zur schwierigeren/aufwändigeren Schärfbarkeit der breiten Facette dran: bei manchen dieser Kandidaten wurde nach Setzen eines zweiten Winkels durch Aufbringen einer (Extra-) Lage Tape ein angenehmes Messer daraus.

Aber nicht immer!

Ich glaube, dass es noch einen weiteren einflussreichen Faktor gibt - die Schneidengeometrie :)!

Viele Messer mit breiter Facette haben Verschliff und auch ein ungünstiges Verhältnis Klingenbreite zu Rückenstärke, d.h. der Schneidenwinkel ist zu groß/stumpf (>18 Grad). Dies wirkt sich auch spürbar auf die Rasureigenschaften aus.

LG
Jörg, angebender Alphamann mit anatomischen Defiziten ;)


Rockabillyhelge

Den Gedanken das die Relation Rückenbreite / Klingenbreite eine Rolle spielen könnte hatte ich auch schon im Blick, da die meisten Messer bei denen es funktioniert recht schmale Rücken in Realtion zur Klingebreite haben, viele derbe bei denen es nicht geklappt hat stattdessen relativ breite Rücken hatten.
Das mit der breiten Facette müsste ich mal beobachten und auch wieder Ausschau nach einem weicheren Schiefer halten um Iltis Erfahrungen auszutesten, bin auf jeden Fall dankbar für euren Input  :D dh:
Auch mit Bart immer gut rasiert :)

Klaasianer

Zitat von: Rockabillyhelge am 04. November 2014, 17:25:01
Den Gedanken das die Relation Rückenbreite / Klingenbreite eine Rolle spielen könnte hatte ich auch schon im Blick, da die meisten Messer bei denen es funktioniert recht schmale Rücken in Realtion zur Klingebreite haben, viele derbe bei denen es nicht geklappt hat stattdessen relativ breite Rücken hatten.
Das mit der breiten Facette müsste ich mal beobachten und auch wieder Ausschau nach einem weicheren Schiefer halten um Iltis Erfahrungen auszutesten, bin auf jeden Fall dankbar für euren Input  :D dh:

Wie immer gilt 1:3=Rücken:Klingenbreite
Rasito ergo sum!

UbuRoy

Also, ich hab locker 40 Wedges und alle, wirklich alle sind sehr gute Rasierer.
Bei all den hunderten die ich aufgearbeitet habe, war so gut wie kein Ausschuss dabei. Lediglich mehr oder weniger viel Arbeit.

Iltis

Zitat von: Klaasianer am 04. November 2014, 17:59:58
Wie immer gilt 1:3=Rücken:Klingenbreite

Möchtest du das mit ein Toleranz qualifizieren, Klaasianer? es gibt kaum ein Messer der genau diese Proportionen aufweist, und alle sind ungefähr so.

Zitat von: UbuRoy am 04. November 2014, 18:40:05
...war so gut wie kein Ausschuss dabei. Lediglich mehr oder weniger viel Arbeit.

100% Zustimmung. Wenn man diese Erfahrung gemacht hat, versteht man dem Sinn der Hohlschliff (trotzdem habe ich einige Wedges mit den ich sehr, sehr gerne rasiere).

Gruß

Iltis
de gustibus, aut bene aut nihil

lotse

Zitat von: Iltis am 03. November 2014, 20:17:36
Ob vollhohl oder derb, mMn. ein gut geschärftes Messer rasiert gut; wenn es nicht gut rasiert dann ist es entweder nicht gut geschärft, oder das Messer ist Schrott.

Ich denke, derlei Grundlagen müssen nicht erörtert werden. Auf die Ausgangsfrage bezogen meine ich: Es gibt unter allen Messerformen hervorragende Exempare und durchschnittliche Vertreter. Egal ob derb oder vollhohl.
Meine derben Messer, vor Allem die Kamisori, sind ausgezeichnete Rasierer. Ohne Ausnahme. Dennoch kann ich graduelle, winzige Unterschiede ausmachen. Meine Schärfroutine gestalte ich insoweit flexibel, als dass ich in einigem Umfang bestimmten Eigenschaften der Messer Rechnung tragen kann. Bei ein paar derben Messern hat es sich z.B. bewährt, nur mit einem Naguraanreiber zu arbeiten oder auf den harten Nakayama als Abschluß zu verzichten.
Grundsätzlich steckt mehr Arbeit in den derben Klingen. Je mehr Keilform, desto mehr Schärfarbeit. Die Toleranz zum idealen Schneidwinkel scheint relativ groß zu sein. Ein derbes Taylor Witness rasierte immer noch komfortabel obwohl die Klinge schon sehr abgearbeitet war - ohne dass die Rückenbreite im Laufe der Zeit entsprechend abnahm.

Iltis

Zitat von: lotse am 04. November 2014, 19:37:56
Zitat von: Iltis am 03. November 2014, 20:17:36
Ob vollhohl oder derb, mMn. ein gut geschärftes Messer rasiert gut; wenn es nicht gut rasiert dann ist es entweder nicht gut geschärft, oder das Messer ist Schrott.
Ich denke, derlei Grundlagen müssen nicht erörtert werden.

Zitat von: Rockabillyhelge am 02. November 2014, 22:40:25
...bei den derben Messer ist es wie eine Lotteriespiel, von dreissig Stück funktionieren vier so hervorragend das einem das Herz jauchzt und 27 so übel das man sich kein zweites Mal damit rasieren mag wobei alle gleich geschärft und scharf sind....

@Lotse: Sicher?

Gruß

Iltis
de gustibus, aut bene aut nihil


Iltis

Ich kann mich immer noch an meine erste Versuche, derbe Messer zu schärfen (vor ca. 9 Jahre) erinnern. Damals habe ich teilweise (und mit Recht) an meine Fähigkeit Rasiermesser zu schärfen gezweifelt. Als Ausrüstung besass ich der gleiche Suntiger 1000/6000er Kombistein das ich Heute noch benutze (die 1000er Seite), ein kleine GBB und ein MST Thüringer. Viel mehr habe ich Heute auch nicht, aber wie ich schon oben beschrieben habe, habe ich gelernt, das der Hauptqualität das man bei Wedges braucht Geduld ist. Das allererste war ein F. Reynolds Messer der verschiedene Anläufe über gut 3 Wochen brauchte, bis er rasierfertig war. Bis Heute habe ich meine Zweifel, ob die Unterschiede bei rasierfertige derbe Messer mehr an den Messer oder an meine Schärfarbeit zurückzuführen sind. Schliesslich rasiere ich mich nur einmal am Tag, alleine die zeitlich Abstände dazwischen erschweren ein objektiver Vergleich, ohne die ganze andere Variabeln, von Auswahl der Seife bis hin zu Tagesform. Trotzdem ist es wahr - man hat manche Messer lieber, manche weniger gern, aber ob das "wissenschaftlich" zu begründen wäre... Glaube ich eher nicht.

Gruß

Iltis
de gustibus, aut bene aut nihil

Klaasianer

Zitat von: Iltis am 04. November 2014, 18:59:37
Zitat von: Klaasianer am 04. November 2014, 17:59:58
Wie immer gilt 1:3=Rücken:Klingenbreite

Möchtest du das mit ein Toleranz qualifizieren, Klaasianer? es gibt kaum ein Messer der genau diese Proportionen aufweist, und alle sind ungefähr so.



Gruß

Iltis

Geringfügige Abweichungen sind zulässig. Zu beachten ist aber auch der Verlauf der Rückenkante. Diese sollte parallel zur Schneidkante verlaufen.

Exakte Berechnung wäre: Klingenbreite:3,5=Rückenstärke
Hier eine Anleitung zum Bau einer Messlehre (mittlere Skizze) für Rasiermesser.
Quellenangabe:
Max Schmidt, "Das Rasiermesser", Fachbuchf ür das Messerschmiedehandwerk (Reprint of the Original from 1939)


Rasito ergo sum!

Iltis

#14
Zitat von: Klaasianer am 04. November 2014, 17:59:58
Wie immer gilt 1:3=Rücken:Klingenbreite

Zitat von: Klaasianer am 04. November 2014, 21:31:28
Geringfügige Abweichungen sind zulässig.

Exakte Berechnung wäre: Klingenbreite:3,5=Rückenstärke

Nunja, das ist ein Toleranz von ungefähr 15%, unter geringfügig verstehe ich was anderes.

Misstrauisch wie ich bin, habe ich ein Bisschen gerechnet.



An diese Skizze ist B die Rückenstärke und L die Klingenbreite; a, b, und c sind die Seiten ein rechtwinkligen Dreieck wie wir von die Schulmathe kennen. Da wissen wir auch das a durch b die tangens ergibt für die Hälfte unsere gesuchte Schneidwinkel. Um es zu vereinfachen, habe ich angenommen, der Messerrücken ist halbrund.

Nehmen wir die Proportionen 3,5(=L) zu 1(=B)
da ist a=0,5  b=3,0
Mein Taschenrechner sagt mir das die Schneidewinkel wäre dann 18,925º, was etwas breiter wäre als jollo74s Maximum.

Bei die Proportionen 3:1 kommen wir auf ein erstaunliches 22,62º

Um auf die 15º angegeben in Max Schmidts Skizze muss, wenn a=0,5 , b schon 3,8 sein, was ein Ergebnis 1:4,3 ergibt, bei mein angenommenen halbrunden Messerrücken.

Klaasianer, kann es sein, das du genausooft deine Messer vermisst als ich (ich glaube, man erahnt wie oft das ist ;D)?

Gruß

Iltis
de gustibus, aut bene aut nihil