Das verlorene Schäfchen

Begonnen von bongofury, 17. Januar 2021, 15:54:28

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bongofury

Holldrio alle,

ich versuche ein verlorenes Schäfchen wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Ein hundskommunes 5-Achtel Solinger (Erbe) mit Hohlschliff hat längere Zeit für mehrere Anfänger als Übungsmesser hergehalten. Die haben das Ding sogar mal durch einen Wetzstahl gezogen! Kurzum: es schneidet nicht mal mehr kaltes Wasser.

Ein neuer Grat muss also her! Tausender Stein vorbereiten und, wie gelernt, 10-15 Schübe. Lupe und testen, ob's ein paar Haare von der Haut kratzt - vorher geht's bestimmt nicht auf den nächsten Stein. Ich meinte, sowas wie eine Facette zu erspähen, aber Haare schneiden? Keine Spur. Also, das ganze nochmal von vorne. Mittlerweile haben wir zwei bestimmt 3'435'983 Schübe auf dem Tausender hinter uns - in allen Variationen. Rücken voran, Schneide voran, Rücken 0,003mm anheben, Rücken 1mm anheben, mit vier Lagen den Rücken abgeklebt, ohne abzukleben, ganz Sanft, mit Druck (okey, nur etwas Druck), kreisend, Hackermethode - einfach alles probiert. Mittlerweile habe ich einen roten Unterarm und er brennt! Aber wenigstens habe noch Haare dran. Ich könnte mich mit dem Messer nicht mal schneiden wenn ich damit sägende Bewegungen auf der Handinnenseite vollführen würde!

Bevor ich diesen Schafsbock mit einem Gewicht beschwert in den See schmeisse würde ich doch gerne Eure Tips dazu lesen. Und ja, ich habe im Forum schon Stundenlang geforstet - aber bin immer noch ratlos  o)

Gruss,
bongo


Standlinie

Ein total stumpfes Rasiermesser wird nicht mal so eben durch 15 Schübe auf dem 1000er Stein scharf. Die Arbeit danach auf allen nachfolgenden Steinen ist eigentlich nur Zeitverschwendung, denn durch sie wird ein zuvor noch nicht scharfes Rasiermesser nicht schärfer. Ich poliere allenfalls die bis dahin entstandene unscharfe Facette des Messers.

Wir fangen also nochmal ganz von vorne an. Ich nehme meinen ersten Stein (den 1000er) und ziehe das Rasiermesser auf diesem Stein solange ab, bis es scharf ist. Diese Schärfe entspricht noch nicht derjenigen Rasurschärfe, durch die ein Rasiermesser hervorsprießende Bartstoppeln sanft abschabt, sondern derjenigen Schärfe, nach der ich auf den nächsten Stein (z.b. ein 3000er) wechsele. Wie also ist die Vorgehensweise? Das Rasiermesser wird kurz abgeklebt und kommt dann auf den 1000er Stein. Schübe, Schübe, Schübe, die Anzahl ist nicht wichtig. Wichtig ist dagegen, solange zu "schieben", bis die Klinge scharf ist. Die Schärfe prüfe ich an meinem linken Unterarm. Dazu setze ich die Klinge unter einem Winkel von etwa 30 Grad vorsichtig auf und schiebe die Klinge quer zur Schneide. Fallen bei dieser Bewegung erste Unterarmhaare, zeigt dies an, dass sich schon eine gewisse Schärfe eingestellt hat. Diese Schärfe muss aber für alle Stellen der zuvor von mir erzeugten Schneide/Facette gelten. Klappt das nicht, kommt das Messer wieder auf den 1000er Stein. Ist die Schärfe für die gesamte Facette nachweisbar, wechsele ich auf den nächsten Stein (bei mir der 3000er).

Zeigen sich beim Abzug der Klinge Abriebserscheinungen am Tape, wechsele ich das beschädigte Tape gegen einen neuen Streifen aus. Über das aufgeklebte Tape werden Abschleifspuren am Klingenrücken vermieden und gleichzeitig ein gleichbleibender Abzugswinkel eingehalten.

Ich verwende folgende Steine: 1000er Naniwa, 3000er Naniwa, GBB, Thüringer Schiefer oder Koraatschiefer. Andere Forenmitglieder verwenden wiederum andere Steine, haben vielleicht auch andere Unterteilungen bei der Steinkörnung. Ist aber alles egal, denn jeder kann bei den Steinen unterschiedliche Erfahrungen vorweisen, durch die er sich seine Steinwahl und Steinabfolge zusammengestellt hat. Und mit zunehmender Erfahrung werden auch die unmöglichsten Rasiermesser wieder rasurscharf.

Durch die Lupe sehe ich die durch den Abzug entstandenen Schleifspuren auf den Facette, anfangs noch als schrägstehende deutlich sichtbare Striche, deren Tiefe sich mit jedem nachfolgenden feineren Stein verringert. Der Spiegelglanz der Facette wird auch zunehmen.

Die eben beschriebene Abfolge reicht vom Grundsatz her für alle Normalstähle (Kohlenstoffstahl) der uns rasierenden Rasiermesser. Dann gibt es aber noch andere Stähle, zum Teil sehr harte Stähle. Die lassen sich auch noch bearbeiten, aber der Zeiteinsatz ist sehr viel größer, bis sich die von mir gewünschte Rasurschärfe einstellt. Chinesische Rasiermesser der Marke Gold Dollar und auch viele französische Rasiermesser mit der Aufschrift "Pour Barbes dure" (für harte Bärte) sind typische Vertreter dieser harten Stähle. Weiterhin gibt es noch Rasiermesser, bei denen der Klingenkörper aus Edelstahl besteht. Gegenüber dem Kohlenstoffstahl unterscheidet sich die Stahlzusammensetzung des Edelstahles, weil zum Beispiel Chrom und andere Komponenten beigefügt wurden. Diese Zusammensetzung macht den Stahl rostträger aber auch sehr viel härter. Und das merke ich natürlich auch beim Abzug eines solchen Rasiermessers. Der Abzug wird bei diesem Edelstahl zeitintensiv.

Aus welchem Stahl Dein ERBE-Rasiermesser hergestellt wurde, weiß ich nicht. Ich vermute aber, dass die ursprüngliche falsche Schärfmethode mit dem Wetzstahl zu einer totalen Verhunzung der ursprünglichen Rasiermesserfacette geführt hat. Um diese unter der Lupe absolut schartig aussehenden Schneide braucht viel Hinwendung, um daraus wieder eine neue Schneide zu erzeugen. Möglicherweise hat die Wetzstahlanwendung auch dazu geführt, dass die Schneide gar nicht mehr auf ihrer gesamten Länge gerade ist sondern einen Bauch aufweist. Das kannst Du relativ schnell prüfen. Setze die Schneide des Rasiermessers auf einen planen Untergrund (Metalllineal, Fliese, usw.) und leuchte die Klinge von hinten an. Siehst Du unter Der aufgesetzten Schneide Licht, ist die Schneide nicht mehr auf gesamter Länge gerade und weist einen Bauch auf. Trifft dieser Fall zu, musst Du die Klinge erst einmal wieder soweit begradigen, dass sie keinen Bauch mehr aufweist. So würde ich es machen. Für den Abzug der nun begradigten Schneide würde ich das Rasiermesser mit zwei Lagen Tape abkleben und dann ganz von vorne beginnen. Die Vorgehensweise habe ich schon beschrieben.

Ich selber habe einmal ein recht schwieriges unscharfes Rasiermesser gehabt, das mir viel Zeit abverlangt hat, um wieder in einen rasurscharfen Zustand versetzt zu werden. Am Beispiel dieses Rasiermessers möchte ich Dir zeigen, was alles gegebenenfalls zu tun ist, um es wieder rasurtauglich werden zu lassen. Hier ist der Link dazu zum Nachlesen:  https://www.gut-rasiert.de/forum/index.php/topic,25650.0.html

Vielleicht ermutigt Dich dieser Bericht, Dein Rasiermesser nicht zu entsorgen, sondern es noch einmal zu versuchen. Der Erfolg stellt sich nach meiner Erfahrung nicht automatisch ein, sondern verlangt Einsatz und Herzblut. Und erst durch viel Übung stellt sich dann die Erfahrung ein, die ich benötige, um (fast) jedes nicht rasurscharfe Rasiermesser wieder rasurtauglich werden zu lassen. Meister fallen leider nicht vom Himmel (habe ich auch noch nie gesehen). Und falls Du selber keine Lust mehr verspüren solltest, Dein Rasiermesser noch einmal abzuziehen, kannst Du es getrost einigen erfahrenen Forumskollegen anvertrauen, die es dann für Dich abziehen können und werden. Hier im Forum gibt es einen so genannten Schärfdienst, wo sich einige Forumsmitglieder anbieten, ein Rasiermesser zu schärfen.

Die Nachhaltigkeit einer gründlichen Nassrasur zeigt sich 24 Stunden später an nur gering und gleichmäßig nachgewachsenen Bartstoppeln.

Tim Buktu

Nach Standlinies Ausführungen erübrigt sich ein Beitrag von mir.  :D
Tranquilo - In der Ruhe liegt die Kraft...

PS: Alles nur meine persönliche Meinung, die sich durchaus beeinflussen lässt und sich deshalb gelegentlich auch ändert!

alvaro

Auch mein Beitrag muss sich auf "Erbe sind sehr gute Messer" beschränken.
:D