Rasurkultur

Begonnen von Drei, 31. Juli 2012, 05:28:10

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Standlinie

Nach Bestehen meines Jagdscheines konnte ich das Öffnen eines Wildkörpers (Aufbrechen) schon viele Male einüben. In Abhängigkeit vom jeweiligen Wild, von der Witterung (Regen, Schneematsch, feuchtes Erdreich, u.a.)  und von der persönlichen Geschicklichkeit läuft auch diese Arbeit nach einem gewissen Schema ab, das man einüben kann und mehr oder weniger gut beherrscht. Allerdings habe ich noch nie !!! bei mir oder bei anderen Jagdgenossen sehen können, dass das gänzlich ohne Schmutz- und Schweißspritzer (Blutspritzer) abging. Irgendwo passiert dies immer, und es läßt sich auch bei aller Sorgfalt nicht vollkommen vermeiden. Insofern denke ich, dass die Geschichte mit den weißen Hemdsärmeln und Manschettenknöpfen eine idealisierte Wunschvorstellung ist, die Jagdscheinanwärtern und Jungjägern gerne erzählt wird, damit sie dieses "Bild" als Vorbild nehmen und sich auch Mühe geben, das gestreckte Wild säuberlichst zu verwerten und nicht einfach wegzuwerfen, was ich auch schon (leider  :-\) beobachten konnte.

Den Begriff Rasurkultur verbinde ich immer mit dem Begriff Rasurgenuss  :). Ich treffe die Entscheidung und wähle aus, wie ich etwas wahnehmen und ausüben möchte. Ich kann zum Beispiel nur mit den Fingern essen, habe aber auch die Wahl stattdessen Messer und Gabel zu verwenden. In gepflegter Umgebung ein leckers Essen zu sich zu nehmen ist etwas anderes als sich nur zur Befriedigung seines Hungergefühls den Magen voll zu stopfen.

Ich verbinde mit dem Begriff Rasurkultur die nur mich betreffende persönliche, individuelle und gepflegte Ausübung einer über viele Jahre eingeübten täglichen Rasurpraxis, um meinem für meine Person gültigen Anspruch nach einem gepflegten und ansprechenden Aussehen zu entsprechen. Die Rasur nimmt für meine Person einen wichtigen Stellenwert ein. Ich vergleiche sie nicht mit anderen alltäglichen Abläufen. Die von mir ausgeübte Rasur entspricht daher von ihrem Ablauf her eher einem gewissen Ritual oder einer Zeremonie. Sie ist ein Vorgang, bei dem ich die Hauptperson spiele und den ich morgens vor oder nach dem Duschen ausübe. In gewisser Weise bereite ich mich während und mit meiner Rasur auf den bevorstehenden Tag vor; ich konzentriere mich hierbei überwiegend oder allein auf den Rasurablauf und denke in der Regel auch an gar nichts anderes. Ich verfolge innerlich, wie die Schneide auf meiner Haut die Stoppeln beseitigt und nehme unmittelbar wahr, wo eine Hautirritation entsteht.

Ich rasiere mich für mich und erst einmal für niemanden anderen. Natürlich wird das Ergebnis auch von anderen Personen wahrgenommen; meine Frau begrüsst es sehr, ihre Wange an wohlriechende und glatte Haut zu schmiegen und nicht an eine Bürste. Für mich ist die tägliche Rasur somit ein bewusst wahrgenommener und mit dem richtigen Rüstzeug versehen gewollt ausgeübter Vorgang. Sie ist kein ungeliebter täglicher Mussvorgang, wie es viele andere Zeitgenossen in meinem Freundes- und Bekanntenkreis sehen. Diese von ihnen ungeliebte und leidige Rasur wollen sie so schnell wie möglich und damit meistens lieblos abstellen. Für mehr reicht es nicht. Für sie gibt es keine Rasurkultur, nur einen Rasurzwang
Die Nachhaltigkeit einer gründlichen Nassrasur zeigt sich 24 Stunden später an nur gering und gleichmäßig nachgewachsenen Bartstoppeln.

mikri

Schön geschrieben Standlinie  dh: danke.

LG mikri
Mit Verarzten dauert's länger

http://nassrasieren.blog

Onkel Hannes

Dem Kompliment schließe ich mich an!  dh:
Hungrig vom schlafen und müde vom essen.

Frank OZ

Ja. ich auch  dh:.
Gruß, Frank

herzi

Die Perfektion, daß nichts rumsaut beim Eimschäumen wird denke ich auch nur erreicht wenn man sich auf max. eine handvoll  Rasurmittel festlegt. Perfektion ist auch immer mit Routine und Wissen verbunden. Ich muß es im Gefühl haben wie eine Seife oder Creme auf mehr/weniger oder heißeres/kälteres Wasser reagiert. Noch dazu die Tücken des Pinsels verinnerlicht haben.
Und bei der handvoll Rasiermittel wär mir bald langweilig und der Genuß würde der Routine weichen.
Gruß,
Stefan

Frank OZ

Zitat von: herzi am 02. August 2012, 22:09:15
...
Und bei der handvoll Rasiermittel wär mir bald langweilig und der Genuß würde der Routine weichen.
Zuviel Krimskrams lenkt aber auch ab. Ich versuche, meinen Bestand aufs Maximum zu reduzieren. ;)

Drei

Hast recht, geht ja nicht um Sprachkultur.  ;)

Frank OZ

#22
Standlinie hat das Thema Rasurkultur für mich sehr schön zusammengefasst:

Zitat von: Standlinie am 02. August 2012, 14:02:49
Ich verbinde mit dem Begriff Rasurkultur die nur mich betreffende persönliche, individuelle und gepflegte Ausübung einer über viele Jahre eingeübten täglichen Rasurpraxis, um meinem für meine Person gültigen Anspruch nach einem gepflegten und ansprechenden Aussehen zu entsprechen. ... Die von mir ausgeübte Rasur entspricht daher von ihrem Ablauf her eher einem gewissen Ritual oder einer Zeremonie.


Bei Ritualen oder Zeremonien schwingt immer der gute Vorsatz ,,Schuster bleib' bei Deinen Leisten" mit. Denn Rituale und Zeremonien zeichnen sich dadurch aus, verlässlich immer dasselbe zu tun und den Vorgang so zu perfektionieren, dass die Wiederholung die Beherrschung des Vorgangs jedes Mal aufs Neue bestätigt.

Ich hadere schon lange mit meiner Neugier auf immer mal ein anderes Produkt. Aber ich bin trotzdem immer wieder ,,rückfällig" geworden und habe noch einen anderen Hobel oder ein anderes Wässerchen ausprobiert. Natürlich lässt sich argumentieren, dass nur wer sich auskennt die Qualität des Rituals einzuschätzen oder überhaupt zu schätzen weiß. Das mag sein. Aber ist derjenige, der das Ritual immer nur mit einem Hobel, einem Pinsel und einer Seife zelebriert und dem andere Sachen egal sind, schlechter `dran? Nein, gewiss nicht.

Nachdem ich meine, aus eigener Erfahrung und dank dieses Forums einen ganz guten Überblick zu haben, werde ich meine Neugier begrenzen. Ich werde mich endlich aufs Maximum reduzieren. Zuerst bekommen meine Schaumkantenhobel neue Herrchen (bis auf den Roten Fetz, den ich als Reiserasierer behalte), meine Seifen werde ich wegschäumen, bis mir eine davon und der Kumpelstick für unterwegs bleiben, meine Wässerchen werden abfließen und welches bleibt entscheide ich nach der Qualität der Pflege und seiner Unauffälligkeit. Und auch dann habe ich immer noch einige Hobel zu viel.

Denn am Ende geht es nicht ums Arsenal, sondern ums Ritual, um die Zeremonie, und eine möglichst gelungene Rasur.

octav

Das ist grad ganz großes Kino, was ich hier lesen darf. Erst Standlinie, und jetzt noch Frank Oz. Ich bin leicht ergriffen. Danke für die guten Gedanken und das hohe Schreibniveau.
- Gestatten der Herr mal die Rotzfahne, daß ich mein Messer abwischen kann.
(James Joyce, Ulysses)